Als Trauerredner neue Perspektiven aufzeigen
Als Trauerredner haben wir es hin und wieder mit problematischen Formen der Liebe zu tun, die die Angehörigen daran hindern, wieder ins Leben zu kommen. Unsere Aufgabe als Trauerredner ist es, die wahre Gestalt dieser Liebe sichtbar zu machen und dadurch den Angehörigen neue Perspektiven zu eröffnen, die ihnen helfen, die Liebe zu spüren und aus der Kraft dieser Liebe weiterzuleben. In den ersten beiden Teilen habe ich die unterschätzte Liebe und die dunkle Liebe dargestellt. Heute geht es nun um die vermisste Liebe.
Teil 3: Vermisste Liebe
Hier wird Liebe also gerade nicht empfunden. Das begegnet mir oft bei Kindern, wenn ein Elternteil stirbt, zu dem sie keine oder kaum eine Beziehung hatten. Wenn Eltern sich trennen, ist es ja meistens so, dass die Kinder bei einem Elternteil bleiben, und den anderen nur noch gelegentlich sehen. Meistens bleiben die Kinder bei der Mutter, und deshalb wirkt es für sie als Kinder so, als ob der Vater sie verlassen hätte, und sie glauben, er hätte das getan, weil er sie nicht liebt. Das stimmt natürlich nicht. Es ist eine Sache zwischen den Eltern und nicht zwischen Eltern und Kindern, aber das können die Kinder nicht sehen. Meist geht man im Streit auseinander, und dann ist die Situation sowieso schwierig, so dass man nicht darüber reden kann. Die Kinder solidarisieren sich in der Regel mit dem aus ihrer Sicht schwächeren Elternteil, also mit demjenigen, der aus ihrer Sicht verlassen wurde.
Ich erlebe es oft bei Trauergesprächen, wie diese Dynamik dann verläuft: die Kinder entfernen sich vom Vater, und der Vater ist nicht in der Lage, den Kontakt so zu halten, wie die Kinder es sich wünschen würden, und er ist nicht fähig, ihnen seine Liebe zu zeigen. Meistens gelingt diesen Vätern das erst später, doch dann ist es schon zu spät. Später versuchen sie, soviel wie möglich am Leben ihrer Kinder teilzuhaben, sie finanziell zu unterstützen und für sie da zu sein, aber da ist der Bruch bereits da. Die Kinder haben das Gefühl, dass sie von ihrem Vater nicht die Liebe bekommen haben, die ihnen zugestanden hätte. Sie fühlen sich vernachlässigt und um ihr Recht auf Liebe betrogen. Und so erlebe ich es bei Sterbefällen in vielen Familien, dass es nach dem Tod des Vaters gewaltige Erbstreitigkeiten gibt, über die sich die Familien dann endgültig entzweien. Dabei geht es letztlich nicht um Geld, sondern das Erbe ist nur ein Symbol für diese vermisste Liebe. Die Kinder glauben, dass ihnen mehr Liebe zugestanden hätte, und fordern diese jetzt in Form des Erbes ein.
Trauerredner ist ein Beruf, der mit Heilung zu tun hat. Wir können Heilung bringen für die Angehörigen, können dazu beitragen, dass ihre Wunden heilen. Im Fall der vermissten Liebe erreichen wir das dadurch, dass wir den Angehörigen die andere Perspektive aufzeigen, die sie selbst bisher nicht sehen konnten, die Perspektive der Liebe. Mir fällt dazu eine Trauerfeier ein, zu der die beiden Söhne des Verstorbenen zunächst gar nicht kommen wollten. Sie hatten schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm, weil sie ihm nicht verzeihen konnten, dass er aus ihrer Sicht die Familie verlassen hat.
Die Beerdigung wurde von den beiden Schwestern des Verstorbenen organisiert, mit denen er zeitlebens sehr verbunden war. Auch zu deren Kindern, also seinen Nichten und Neffen, hatte er immer ein gutes Verhältnis und gehörte ganz selbstverständlich zur Familie. Das erweckte bei seinen Söhnen Eifersucht. Sie fühlten sich um die Liebe des Vaters betrogen und trugen diesen Streit nun auf dem Schlachtfeld des Erbes aus. Sie zogen vor Gericht und wollten um jeden Preis verhindern, dass ihre Tanten, also die Schwestern ihres Vaters, und ihre Familien etwas von „ihrem“ Erbe bekommen. Deshalb gab es bereits um die Bezahlung der Trauerfeier heftigen Streit.
Bei der Trauerfeier wusste ich bis zum letzten Moment nicht, ob die Söhne kommen würden, hatte mich aber darauf vorbereitet, weil sie für mich die wichtigsten Adressaten waren. Wenn es mir gelingen würde, dass sie in Frieden abschließen können, würde das auch Frieden in die ganze Familie bringen. Mir ging es deshalb bei der Trauerfeier darum, ihre Sichtweise zu hinterfragen, natürlich ohne die Söhne direkt zu konfrontieren. War es wirklich so, dass ihr Vater sie verlassen und ihnen seine Liebe versagt hatte?
Interessant und auch typisch für diese Konstellation war, dass der Verstorbene in seinem Leben bereits dasselbe Problem hatte: Auch er hatte keinen Kontakt zu seinem Vater und nahm ihm übel, dass er aus seiner Sicht die Familie verlassen hatte. Gerade deshalb sehnte er sich in seinem Leben nach einer harmonischen Familie. Er wollte es besser machen als sein Vater. Er heiratete relativ früh und bekam mit seiner Frau zwei Kinder, und obwohl er es doch hatte besser machen wollen, hielt die Ehe nicht. Im Lauf der Zeit stellten seine Frau und er schmerzlich fest, dass sie völlig unterschiedliche Vorstellungen vom Leben hatten und nicht auf einen gemeinsamen Nenner kamen. So ging es ihm wie seinem Vater: Sie trennten sich, und die Kinder glaubten, er habe sie verlassen. Die Wahrnehmung der Kinder spiegelt nur selten die Wahrheit wider, denn man kann das Ganze auch umgekehrt sehen, nämlich dass Frau und Kinder den Vater alleingelassen und ihm ihre Liebe entzogen haben. Auch das stimmt natürlich nicht, aber es ist in den meisten Fällen zumindest genauso wahr wie die umgekehrte Vorstellung, und von daher eine wichtige Gegenperspektive.
Als Kind kann man das so nicht sehen, denn Kinder sind auf die Fürsorge und Liebe ihrer Eltern angewiesen. Problematisch wird es aber, wenn man als Erwachsener immer noch nicht die andere Perspektive einnehmen kann. Dann können die Wunden nicht heilen. Dann hat man immer einen blinden Fleck, den man nicht anschaut. Die Schuld wird auf den Vater projiziert, und man kommt gar nicht auf die Idee, dass einem selbst so etwas auch passieren kann. Man ist fest davon überzeugt, dass man selbst nicht so egoistisch ist wie der Vater und es besser machen wird. Und gerade weil man da bei sich selbst nicht hinschaut, tappt man selbst in die Falle und erleidet das gleiche Schicksal, und das geht so von Generation zu Generation, bis einmal eine Generation damit anfängt, die Liebe ihrer Väter zu würdigen.
Hier haben wir als Trauerredner die große Chance, diesen Teufelskreis zu beenden und damit nicht nur eine Familie, sondern mehrere Generationen zu heilen, einfach indem wir die andere Perspektive aufzeigen oder zumindest andeuten, denn eine Trauerrede darf natürlich nie belehrend werden. Sie soll einfach Impulse geben, die den Angehörigen die Möglichkeit eröffnen, eine andere Perspektive zu sehen. Wir können mit unseren Worten die Kinder dahin führen, zu sehen, dass ihr Vater sie sehr wohl geliebt hat und dass sie es waren, die aufgrund ihrer eigenen Verletzung diese Liebe nicht zugelassen haben. Wir können ihnen helfen, diese Liebe wenigstens jetzt, nach dem Tod, fließen zu lassen, indem sie die Liebe annehmen und dankbar sind für das, was sie durch ihren Vater geschenkt bekommen haben. Das ist zunächst einmal das Leben, und das ist kein kleines Geschenk. Aber wenn die Kinder genau hinschauen, werden sie noch viel mehr entdecken, das sie von ihrem Vater haben. Manches haben sie vielleicht gerade deshalb, weil sie sich von ihm abgrenzen wollten, aber auch das hätten sie nicht, wenn er nicht gewesen wäre. Das alles ist Geschenk, denn die Kinder können es nutzen, wie sie wollen und wenn sie es wollen. Diese Perspektive wird schließlich zur Dankbarkeit führen, die die Familie heilt.
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