Als Trauerredner neue Perspektiven aufzeigen
In den drei vorherigen Podcasts haben wir uns mit unterschätzter Liebe, dunkler Liebe und vermisster Liebe befasst. Eine weitere problematische Form von Liebe, der ich in der Arbeit mit trauernden Angehörigen begegne, ist die abhängige Liebe.
Teil 4: Abhängige Liebe
Sie begegnet mir oft bei Ehepaaren, die lange miteinander verheiratet waren und keine Kinder haben. Das ganze Leben haben Sie miteinander geteilt, haben miteinander Höhen und Tiefen durchschritten und sich gegenseitig unterstützt. Ihre Welt bestand nur aus ihnen beiden. Wenn nun einer der beiden stirbt, bricht auch für den anderen die ganze Welt zusammen. Der zurückbleibende Partner kann sich nicht vorstellen, wie er alleine weiterleben könnte, und das führt in völlige Verzweiflung.
Ich habe das erlebt bei einem Mann, der seine Frau erst spät im Leben kennen gelernt hatte. Beide hatten bis dahin ein schweres Leben. Ihnen war nichts geschenkt worden, sie wurden von ihren Familien verstoßen und auch sonst von vielen Menschen schlecht behandelt. Der Ehemann war aus Tschechien nach Deutschland gekommen, und es war für ihn nicht einfach gewesen, hier Fuß zu fassen. Durch seine Frau hat er gelernt, auf Menschen zuzugehen und das Leben anzupacken. Erst durch sie war sein Leben glücklich geworden, und nur mit ihr hatte er glückliche Tage gekannt. In den Gesprächen mit ihm, egal ob persönlich oder am Telefon, konnte er nur weinen. Er hatte keine Perspektive mehr.
Oder ich denke an eine Frau, die 55 Jahre mit ihrem Mann zusammen durch Dick und Dünn gegangen ist. Sie haben sich im Zug auf dem Weg zur Arbeit kennengelernt, und von da an ist ihr Mann nicht mehr von ihrer Seite gewichen, wie sie es ausgedrückt hat. Als sie ihre Arbeit kündigte und in einer anderen Stadt eine neue Arbeit angefangen hat, da hat er ganz selbstverständlich ebenfalls seine Arbeit gekündigt und sich dort etwas Neues gesucht, und so sind die beiden mehrmals umgezogen. Bei einem ihrer Wanderausflüge sahen sie einen im Bau befindlichen Wohnkomplex, und weil es ihnen dort gefiel, kauften sie gleich eine der Wohnungen, um dort ihren Lebensabend zu verbringen und waren auch dort sehr glücklich. Als die Frau schwer krank wurde, pflegte ihr Mann sie aufopferungsvoll, bis sie wieder gesund war. Als er krank wurde, pflegte sie ihn. Doch er wurde nicht mehr gesund. Bevor er starb, bedankte er sich bei seiner Frau, wie reich sein Leben war, weil er sie hatte. Auch dieses Paar hatte keine Kinder. Ihre Welt bestand nur aus ihnen beiden, und als der Mann starb, hatte die Frau keine Lebenskraft mehr.
Oft ist es einer solchen abhängigen Liebe so, dass der zurückbleibende Partner innerhalb eines Jahres krank wird und stirbt, weil er ohne den anderen nicht leben kann. Um das zu verhindern, reicht eine Trauerrede nicht aus, so gut sie auch sein mag. Da braucht es auch danach noch eine intensive Begleitung. Trotzdem kann die Trauerrede ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein.
Es sind große und wunderbare Liebesgeschichten, die ich in solchen Fällen höre, und zunächst einmal ist es wichtig, diese große Liebe zu würdigen und sichtbar zu machen. Trotz aller problematischen Anteile ist und bleibt das eine große Liebe, die die meisten Menschen in ihrem Leben nie erreichen, und das ist das Entscheidende: diese Liebe ist wirklich groß. Erst wenn ich das würdige, kann ich daran gehen, die problematische Seite dieser Liebe zu sehen. Das ist in diesem Fall die Abhängigkeit der beiden voneinander.
Sie konnten schon zu ihren Lebzeiten nicht ohne einander leben, oder zumindest haben sie das geglaubt, weil sie sich ohne den anderen schwach und alleingelassen gefühlt haben. Jetzt, wo der Partner tot ist, können sie sich erst recht nicht vorstellen, alleine weiterleben zu können. Deshalb geben sie sich und das Leben auf.
Die Aufgabe des Trauerredners sehe ich in diesem Fall darin, die gewaltige Kraft sichtbar zu machen, die in dieser Liebe steckt. Wenn man die Lebens- und Liebesgeschichte der beiden hört, dann wird man als Redner sicherlich viele Punkte finden, wo die Liebe den beiden Kraft fürs Leben gegeben hat, wo die Liebe ihr ganzes Leben verwandelt und schön gemacht hat. Das können die Trauernden in ihrer Verzweiflung nämlich gar nicht sehen. Wir als Trauerredner können sie darauf aufmerksam machen, wie viel Kraft sie aus dieser Liebe gezogen haben.
Dann führen wir die Trauernden noch ein Stück weiter, nämlich dahin, dass sie sehen, dass diese Liebe mit dem Tod nicht verschwunden ist. Die Liebe ist immer noch da. Sie überdauert den Tod, und das spüren die Menschen gerade in der Trauer besonders tief. Und sie spüren, dass die Liebe in beiden Richtungen noch da ist, dass auch die Liebe des verstorbenen Partners nicht mit gestorben ist, sondern ihnen weiter Kraft gibt. Wenn die Trauernden das erfahren, dann haben sie die Chance, aus dieser Abhängigkeit herauszutreten und aus der Kraft dieser Liebe den Weg alleine weiterzugehen. Wie gesagt wird die Trauerrede dafür nicht ausreichen, aber sie kann eine erste wichtige Hilfe in diese Richtung sein.
Sie wollen lernen, wie Sie als Trauerredner problematische Formen der Liebe auffangen und in Kraft verwandeln können?
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